Inhaltsverzeichnis:
1. Ein langer Spaziergang
2. Einen Schritt zurück
3. Flatternde Nerven
4. Heißer Sommertag
5. Kirchturm
6. Die Nacht mit Dir
7. Bittersüße Erinnerungen
8. Zurück im Café
8. Zurück im Café
Alfred bewunderte das graue Pflaster am Boden vor ihm. Diese Straße ist eine der wenigen, die den Krieg überlebt haben. Viele Gebäude in dieser Gegend waren von den Bomben verschont worden. Von links kam ein kleiner Hund mit einer Leine um den Hals, die ihn mit seinem Besitzer verband. Er schnuppert an Alfreds Schuhen und wurde sogleich ruckartig von seinem Herrchen zurückgezogen. Alfred hob den Kopf und bemerkte, dass er in der Gasse des Cafés Sperl angekommen war.
Seine müden Schritte führten ihn zu der alten Holztür mit dem goldenen Rahmen. Zögernd griff er nach der Türklinke und zog seine Hand schnell wieder zurück. Nein, er konnte heute nicht reingehen. Die Erinnerungen schmerzten zu sehr. Doch von innen öffnete ein junger Mann die Tür und bot dem alten Mann lächelnd an, einzutreten. Alfred nickte dankend und betrat das Café.
Er ging die drei Stufen hinunter und ließ seinen Blick über die Tische schweifen, genau wie Marie es vor fast 50 Jahren getan hatte. Es war erstaunlich, wie wenig sich seitdem verändert hat. Es waren immer noch dieselben Möbel, wenn auch andere Dekoration. Die Leute hinter der Theke waren jung und voll Energie. „Was darf es für Sie heute sein?“ Alfred musterte die junge Dame in Uniform. „Einen Milchkaffee, bitte“, antwortet er schließlich.
In der Ecke fand er den kleinen Tisch, auf dem er früher jede Woche saß. Es war der perfekte Platz, weil man einen guten Überblick über das gesamte Lokal hatte, die Mitarbeiter einen schnell sahen und man weit weg von der Tür saß, sodass kein Luftzug herrschte.
Um sich von den Erinnerungen des Spaziergangs abzulenken, beobachtet Alfred die Leute im Café. Auch wenn die Inneneinrichtung des Lokals gleichgeblieben ist, die Menschen sind es nicht. Das Café war fast voll und ständig kamen Leute rein, um das Lokal nach wenigen Minuten mit einem Becher in der Hand zu verlassen. Die Welt bewegte sich schneller als zu seinen Zeiten.
Am Fenster saß ein junger Mann und las ein Buch. Hinter ihm, auf einen größeren Tisch versammelte sich eine Familie. Die Mutter wischte ihrem Baby gerade Milch aus den Mundwinkeln und der Vater lachte mit dem Sohn herzlichst, während sie zwei Spielzeugautos über den Tisch fahren ließen. Ein junges Paar in der Nähe des großen Fensters gab sich einen Kuss.
Wie würde Alfreds Leben jetzt wohl aussehen würde, wenn er es mit Marie verbracht hätte? Wäre er dann erfolgreicher Fotograf? Hätte er Kinder? Hätte er etwas Sinnvolles für die Welt getan? Wäre er dann glücklich gewesen? Er realisierte gar nicht, wie traurig er in diesem Moment aussah.
Gedankenverloren blieb sein Blick an einer sehr elegant gekleideten älteren Dame an der Bar hängen, die gerade das Menü an der Wand studierte. Ihre grauen Haare waren zusammengebunden und hingen locker von ihrem Kopf. Als sie sich umdrehte und nach einem Platz suchte, gefror Alfred das Blut in den Adern. Konnte das sein? Noch bevor er es verarbeiten konnte, trafen sich ihre Blicke.
„Alfred? Bist Du es?“ Marie lächelte und kam näher.
Alfred wusste nicht, was er sagen sollte. War das ein Traum? Halluzinierte er? Werden die Menschen um ihn herum einen Psychiater rufen, wenn er dem Geist vor seinen Augen antwortete? Immerhin war er bereits über 70.
„Marie“, sagte Alfred und stand langsam auf. Er küsste ihre Hand. „Ich- Was- Wie-“ Seine Hände zitterten.
Trauer erfüllte Maries Blick. „Alfred, ich habe nicht damit gerechnet, dich hier wiederzusehen. Ich hatte nicht damit gerechnet, dich jemals wiederzusehen. Immerhin wurde mir gesagt, Du wärst tot.“ Sie warf aus Verzweiflung die Hände in die Luft.
„Tot?“, fragt Alfred, „wer hat Dir denn das erzählt?“
„Mein Vat-“ Marie wurde stumm. Sie sah ihn beschämt an. Alfred stieß den Atemzug aus, den er seit einer gefühlten Ewigkeit in seinen Lungen hielt.
„Bitte setz dich“, bot Alfred an. Marie setzte sich auf den leeren Stuhl Alfred gegenüber. Keiner der beiden wusste, wie oder wo er anfangen sollte.
Nach mehreren Momenten fragte Alfred verletzt: „Wo warst Du denn?“
Maries grüne Augen füllten sich mit Tränen. „Alfred, ich- es ging einfach alles so schnell. Ich wusste nicht, was ich tun sollte.“ Eine Träne lief über ihre faltige Wange.
Sie stand vor Alfreds Haus und zitterte am ganzen Körper. Marie wollte es nicht wahrhaben, doch jeder Narr konnte eins und eins zusammenzählen. Der Krieg war bis in diese kleine Stadt vorgedrungen. Sie zog sich ihre Kleider an und rannte, so schnell sie konnte, zurück zu ihren Eltern. Sie stürmte durch die Tür, wo die Bediensteten bereits mehrere Koffer hingestellt hatten. „Marie!“ Ihre Mutter rannte auf sie zu. Ihr Gesicht war blas und als sie ihre Tochter sah, brach sie in Tränen aus. „Wo warst Du nur?“, fragte sie aufgelöst. „Ich… es… es tut mir leid“, antwortete Marie. „Schnell, pack Deine Sachen“, befahl ihre Mutter. „Gehen wir zurück nach Italien?“, fragte Marie inmitten der Hektik. „Nein. Es ist zu gefährlich für uns hier. Sie machen regelrecht Jagd auf uns Juden. Wir müssen Europa verlassen.“
Niemand wusste, dass Marie schwanger war. Sie selbst war überrascht. Doch nach fast 3 Monaten konnte sie es nicht mehr verstecken. Jede Woche hatte sie einen Brief an Alfred geschickt, doch nie bekam sie eine Antwort. Ein Bote verriet ihr, dass das Dorf zerbombt wurde. Völlig zerstört. Der Krieg hatte ihr nicht nur ihre Heimat genommen, sondern auch die Liebe ihres Lebens.
Als ihr Vater von der Schwangerschaft erfuhr, arrangierte er sofort eine Hochzeit mit einem reichen Geschäftsmann, der doppelt so alt wie Marie war. Er machte klar, dass sie keine Wahl hatte. Schwanger ohne Ehemann? Am liebsten hätte er sie geschlagen, wenn nicht das Kind in ihrem Bauch darunter leiden würde.
Drei Kinder, Felice, Gabrielle und Marios, und rund 20 Jahre später verstarb Maries Vater. Sie ließ sich noch in derselben Woche von ihrem Mann scheiden. Sie begann, wieder zu malen. Sie leitete eine Kunstschule für beeinträchtigte Kinder und zog nach dem Krieg in eine kleine Hütte in Italien. Endlich fühlte sie sich wieder frei. Endlich fühlte sie sich wieder wie Marie.
Jeden Tag dachte sie an Alfred und das Gefühl von Freiheit und tiefer Liebe, das er ihr gab. Sie wunderte sich oft, wie ihr Leben aussehen würde, wenn sie es mit Alfred verbracht hätte.
„Marios ist Dein Sohn. Du solltest ihn kennenlernen, er ist ein wunderbarer Mensch“, sagte Marie, „Er ist Professor an der Universität und hat bereits selbst Kinder. Timo und Martha.“
Ein Moment der Stille. Der alte Mann ist überwältigt von all dem, was er gerade hörte. Er hatte ein Kind?
Alfred stand auf und drückte Marie fest an sich. Ihr Duft roch nach Vanille und ihre Haut war faltig und weich. Die Liebe seines Lebens wieder in seinen Armen zu halten, erfüllte ihn mit Wärme und er konnte seinen Tränen nicht mehr zurückhalten.
„Und warum bist Du jetzt hier?“, fragte Alfred sie gerührt und konnte noch immer nicht fassen, wer da gerade vor ihm stand.
„Meine Mutter starb vor wenigen Tagen und in ihrem Testament hielt sie fest, sie wolle in ihrer Heimatstadt beerdigt werden. Außerdem hatte ich das Gefühl, dass etwas anderes auf mich wartete.“ Ihre Tränen verwandelten sich vom Tröpfeln zum Fließen.
Alfred konnte es nicht fassen. Er wollte ihr so viele Fragen stellen. Seitdem sie sich das letzte Mal sahen, ist ein ganzes Leben vergangen.
Maries Augen funkelten immer noch in strahlendem Grün. Er bemerkte den Ring an ihrem Finger. Es war derselbe Ring seiner Mutter, den er Marie vor fast 50 Jahren geschenkt hatte. Er lächelte und nahm ihre Hand. Sanft streichelte Alfred über Maries Finger.
„Dieser Ring hat mich immer daran erinnert, dass ich frei bin. Egal, was andere sagen oder tun. Ich bin frei“, sagte sie mit zitternden Lippen.
„Möchtest Du mit mir einen Spaziergang unternehmen?“, fragte Alfred.
27. Januar 1991 stand auf der Zeitung, die vor dem alten Mann auf dem Tisch lag. Seine faltigen Hände störten ihn in diesem Moment nicht mehr. Die Liebe seines Lebens saß ihm wieder gegenüber und der Spaziergang geht weiter.
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