Im Café mit Dir – 1. Ein langer Spaziergang

Inhaltsverzeichnis:

1.         Ein langer Spaziergang
2.         Einen Schritt zurück
3.         Flatternde Nerven
4.         Heißer Sommertag
5.         Kirchturm
6.         Die Nacht mit Dir
7.         Bittersüße Erinnerungen
8.         Zurück im Café

1. Ein langer Spaziergang

Der Wind schlug Alfred mit solch hoher Geschwindigkeit ins Gesicht, dass er seinen Schal vom Kinn bis über die Nase zog. Er richtete seine dunkelgrüne Haube zurecht und steckte seine leicht hervor lugenden weißen Haarsträhnen darunter. Es war ein kalter Januartag im Jahre 1991. Leicht rieselte der Schnee auf die fast menschenleeren Gehwege der Stadt. Hier, in einer Seitengasse, musste man sich glücklicherweise nicht mit dem lauten und rücksichtslosen Verkehr der Hauptstraßen abgeben. Alfred steckte seine Hände, mit der Hoffnung sie ein wenig zu wärmen, in die Taschen seines dunkelblauen Mantels. Es war sein Lieblingsmantel, da er ein Geschenk seines Onkels war. In diesem Moment vermisste er seinen Onkel sehr.

Ohne ein bestimmtes Ziel spazierte Alfred jetzt schon seit einer halben Ewigkeit planlos durch die Straßen. Immer, wenn er an einer Sackgasse ankam, drehte er einfach um und setzte seinen Spaziergang in eine andere Richtung fort. Er hielt es in seinem kleinen Haus einfach nicht mehr aus. Für Außenstehende mag Alfred verloren ausgesehen haben. Die ganze Zeit über beobachtete er den Verkehr, die Gebäude oder starrte einfach nur auf den Boden.

„Habe ich mein Leben verschwendet?“, schwirrt es ihm immer wieder durch den Kopf. Diesen Gedanken hatte Alfred in letzter Zeit immer öfter.

Erst letzte Woche saß er, wie jeden Morgen um 8 Uhr, am Esstisch in der Küche mit Blick auf die Straßen und futterte gemächlich sein Speckbrot und trank einen Kaffee, während er die Tageszeitung las. Als er seine faltigen Hände erblickte, die die Zeitung fest im Griff hatten, geschah es plötzlich. Mit einem Schlag wurde ihm bewusst, dass er alt geworden war.

Er war über 70 Jahre alt und hatte nichts geschaffen, was für die Ewigkeit war. Er wurde kein Künstler. Hatte nie große Reden gehalten. Er hatte keine Kinder und vor allem war er nie richtig glücklich gewesen. Sein ganzes Leben lang hatte er in einer Fabrik gearbeitet, obwohl er doch davon träumte, Fotograf zu werden. Er war nie aus dieser gottverdammten Stadt rausgekommen. Tiefe Reue erfüllte den alten, gebrechlichen Mann.

Er starrte auf seine Füße, die langsame, ziellose Schritte setzten. So ziellos, wie sein ganzes Leben gewesen war. Am Boden lag ein braunes Ahornblatt, das vom Schnee fast ganz bedeckt war. Plötzlich fiel es ihm wieder ein. Marie Donadore. Die kurze Zeit, in der er wirklich glücklich gewesen war. Bei dem Gedanken an sie musste er unweigerlich grinsen. Ach- sie waren ja noch so jung. Um die 20, falls er sich richtig erinnerte. Er war ganz schockiert von ihrer Schönheit, als er sie das erste Mal erblickte, im Café Sperl.

Die goldene Ahornbrosche über ihrer Brust glänzte mich auffordernd an. Schau her, schien sie zu sagen, als wolle sie alle Aufmerksamkeit auf die Frau dahinter lenken.

Mein Blick schweifte zu ihrem langen, brauen Haar, das zu einem Zopf über die linke Schulter geflochten war. Ihr gelbes Sommerkleid betonte ihre umwerfende Figur und schwang mit jeder Bewegung leicht hin und her. Sie trug weiße, hohe Schuhe, einen weißen Hut und passende Handschuhe. Sie war atemberaubend. Ich beobachtete sie, als sie in ihrer kleinen, gelb-weißen Tasche nach Kleingeld für den Kaffee suchte. Noch nie zuvor hatte ich Schönheit in so purer Form gesehen.

Ich rutschte auf meinen Stuhl in der Ecke des Cafés hin und her. Wenn ich sie jetzt nicht ansprach, würde ich vielleicht nie wieder die Chance dazu haben. Also nahm ich all meinen Mut zusammen, wischte mir den Schweiß meiner Hände an der Hose ab und stand auf.

Plötzlich wurde Alfred von einem lauten Hupen aus seinen Gedanken gerissen. Er war, ohne es zu bemerken, auf die Hauptstraße abgekommen und glücklicherweise nur beinahe mit einem Auto in Berührung geraten. Nach dem ersten Schock und entschuldigenden Handzeichen an den Autofahrer überquerte er langsamen Schrittes die Straße und setzte seinen Weg, ohne es zu bemerken, Richtung Stadtzentrum fort.

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