Ein Mann mit langen, braunen Haaren stand gelassen mitten in der Küche.
Ich wollte mir nur ein Glas Wasser holen, aber mein Gehirn begann sofort, alle Bahnen und Neuronen nach diesem unbekannten Gesicht zu durchforsten. Schneller, als mein fleischiger Computer ein Suchergebnis ausspucken konnte, sah meine Mutter mein überraschtes Gesicht.
„Das ist Gustav. Er übernachtet heute hier“, sagte sie rasch. Der Mann hielt mir seine große, grobe Hand hin. Schnell und scheu schüttelte ich sie und verkroch mich dann wieder zurück in mein Zimmer.
Kindliche Hoffnungen wurden in diesem Moment zerschmettert. Meine Eltern haben losgelassen, abgeschlossen und werden ihrer Beziehung keine zweite Chance geben. Tränen fallen auf das Stofftier, das ich mit aller Kraft an meine Brust drücke. Die Knie am Kinn, der Blick auf den Boden.
Wer ist dieser Mann?
Im Laufe der Jahre werde ich es herausfinden. Doch meine eigenen Gefühle legten sich wie Moos über meine Augen. Ich konnte nicht klar sehen.
Erst als Erwachsene kann ich all den Zorn und die verbitterten Emotionen loslassen und ihn als den sehen, der er wirklich ist: ein Mensch wie du und ich. Ein verletztes Kind, das sein Leben lang nach dem sucht, was ihm seine Kindheit nicht bieten konnte.
Das Feindesbild war eine Erfindung der eigenen Fantasie, um mit meiner Realität umgehen zu können. Anstatt Verantwortung für meine innere Welt und den Schmerz der Trennung meiner Eltern zu übernehmen, konnte ich einfach sagen: „Gustav ist schuld. Wäre er nicht hier, wäre alles besser.“
War es fair?
Oder sollte man sich lieber fragen:
Wie reagierte ich auf eine unfaire Welt?
Der neue Mann wurde im Laufe der Zeit, mit jedem Stück meiner Heilung, immer mehr zum Verbündeten. Denn das kleine Kind, das solche Angst vor ihm hatte, besaß folgendes nur im ebenso kleinen Maße: Empathie, Einsicht und Weisheit.
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