An einen alten Freund

Ein alter Schulkollege von mir hat sich vor ein paar Tagen umgebracht. Er schmiss sich vor einen Zug und in drei Tagen wird die Urne von seinen Resten beigesetzt.

Ich erinnere mich daran, wie wir beide als circa 6-Jährige gemeinsam das Lesen und Schreiben gelernt haben. Er war ein bisschen der Klassenclown und hat immer Unsinn gemacht – das machte ihn bei den Mädels beliebt.

Eines Tages hänselten alle Mädchen ihn ein wenig und drängten ihn in die Ecke des Klassenzimmers. Es war ein Spaß für uns und er spielte immer mit. Doch dieses Mal war ihm die Kinderschar wohl zu viel und er wollte ausbrechen. Dabei hat er an meinem Handgelenk gezogen und es gebrochen.

Solange ich einen Gips hatte, musste er meine Schultasche tragen, was ich natürlich genüsslich ausnutzte.

Später, als Teenager, sah ich ihn ab und zu am Skatepark, aber er war meist mit den älteren Leuten unterwegs. Ich erinnere mich daran, dass er ausgezeichnet gut skaten konnte, aber immer ein bisschen mehr als alle anderen kiffte.

Vor wenigen Monaten sah ich ihn dann zufällig im Supermarkt des Heimatortes und wir plauderten kurz. Es war ziemlich offensichtlich, dass er Drogen genommen hatte, denn ich kannte die Symptome von mir und anderen gut.

Er fragte, ob ich wieder mal was mit ihm unternehmen wollte und ich sagte aus Höflichkeit, wie man es so tut, zu. In Wahrheit wusste ich, dass ich mich nicht mit ihm treffen werde, weil ich die Drogenszene hinter mich gelassen hatte und nichts mehr damit zu tun haben wollte.

Danach hat er mir noch mehrere Male auf Instagram geschrieben. Meist um vier Uhr morgens fragte er, ob ich mal wieder mit ihm fortgehen oder mich einfach so mit ihm treffen wollte. Ich lehnte immer ab, weil ich kein gutes Gefühl dabei hatte.

Danach entschied ich mich, dass Instagram meiner mentalen Gesundheit schadet und löschte alle meine Profile und so auch die Kontaktmöglichkeiten zu ihm. Doch als ich heute den Patezettel in den Händen hielt, fiel mir ein, dass wir in der selben WhatsApp Gruppe für Skater des Ortes waren.

Und tatsächlich: Ich hatte seine Nummer sogar noch eingespeichert. Die Nummer, die nun niemandem mehr gehört. Würde ich anrufen, wer würde rangehen? Seine Mutter? Oder wäre das Telefon ausgeschalten?

Ich fühle mich schuldig und traurig, obwohl ich keinen engen Kontakt zu ihm hatte. Schuldig, weil unser Treffen ihn vielleicht gerettet hätte. Traurig, weil mit ihm auch ein Teil meiner Kindheit und der Hoffnung auf der Welt gestorben ist. Ich weiß, wie sich Suizidgedanken anfühlen, aber nicht wie sich ein Suizid anfühlt.

Am Ende des Tages muss ich alles ein wenig distanzierter betrachten: Ich musste in dieser Situation mich selbst schützen und ich hatte keine Ahnung, dass es so enden wird. Außerdem gibt es keine Garantie, dass ich ihm wirklich geholfen hätte.

Darum – Wo auch immer du nun bist, ich hoffe du wurdest von all deinen Lasten befreit.

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