Frau A. im Lift

Frau A. ist eine 93-jährige Rentnerin in einem modernen Altenheim auf der Erhöhung neben dem Fluss. Sie ist halb blind, schwerhörig und dement. Ihre Kinder leben im Ausland, weshalb sie kaum oder garkeinen Besuch bekommt. Ich fühle mich verpflichtet, sie übermorgen mit einem Strauß gut duftender Blumen zu besuchen.

Kennengelernt habe ich Frau A. im Lift. Sie wirkte zuerst unhöflich, weil sie sich und ihren Rollator so platzierte, dass niemand sonst den Lift betreten kann. Auch die Bitten der draußen wartenden Menschen ignorierte sie gekonnt. So fuhren wir zu zweit in das Erdgeschoss. Ich mit meinem Fahrrad und sie mit dem Rücken zur Tür gedreht.

„Bewegen wir uns schon?“, fragte sie, kurz bevor sich die Türen wieder öffneten. In diesem Moment erkannte ich Ihre Lage. Sie war nicht unhöflich – sie war verwirrt. Ich half ihr aus dem Lift und fragte, wo sie denn hinmüsse.

Die Bank war Ihr Ziel – sie wollte ihr gesamtes Vermögen abheben. Die Gründe erfragte ich nicht, was im Nachhinein betrachtet vielleicht klug gewesen wäre. Ich bot Ihr meine Begleitung an, die sie mit einem: „Sie sind ein wahrer Engel!“, dankbar annahm.

Langsam spazierten wir durch die Stadt. Sie erzählte mir von ihrem Leben. „Wissen Sie, meine Mutter war keine angenehme Frau. Nach dem Krieg, wie alt war ich da? 10? 12? – Nach dem Krieg schickte mich meine Mutter von Haus zu Haus, um Kartoffeln zu erbetteln. Alle hielten mich für eine Zigeunerin, aber ich hatte so großen Hunger. Ohne zu Überlegen stahl ich 5 Eier aus einem Stall. Meine Mutter wusste sofort Bescheid. Sie schickte mich mit den Eiern zurück zu dem Hof – 13 Kilometer musste ich gehen! Erst um Mitternacht war ich dort. Können Sie sich das vorstellen? Ich hatte so große Angst. Ich war ja nur ein Kind!“

Frau A. war völlig außer Atem, als wir die Bank erreichten. „Was habe ich mir nur dabei gedacht, allein rauszugehen? Ich bin so froh, dass ich Sie getroffen habe. Sie sind ein wahrer Engel!“, sagte sie mehrere Male.

Ich half ihr dabei, etwas Bargeld von ihrem Konto abzuheben und rief ein Taxi für die Dame, das ich im Voraus bezahlte.

Zufrieden mit meiner guten Tat stieg ich wieder auf mein Fahrrad, um nach Hause zu kommen. Während ich den Schlüssel in meine Wohnungstür steckte, erhielt ich einen Anruf. Der Taxifahrer erklärte, dass Frau A. mir etwas mitteilen möchte. „Ich will mich nochmal bei Ihnen bedanken. Ohne Sie hätte ich das nicht geschafft. Sie sind ein Engel!“

Mit einem Lächeln versicherte ich ihr, dass ich es gern getan hätte. Seitdem denke ich täglich an die alte Frau, die an diesem Tag ihr Altenheim-Leben satt hatte. Der Ausflug zur Bank war für sie ein wahres Abenteuer.

Hätte ich sie nur wenige Momente später angetroffen, wäre ich einfach mit meinem Rad an ihr vorbeigefahren. Der Lift brachte uns zusammen.

Es ist unglaublich, wie schnell man in seine eigene Welt versinkt. Man vergisst die Nebencharaktere des Lebens. Jeder Mensch, dem man auf der Straße begegnet oder hinter dem man an der Supermarktkasse steht – Jeder hat seine einzigartige Geschichte.

Das Schöne am Leben ist doch, wenn sich diese Geschichten kreuzen. So bin ich neugierig und gespannt. Wird mich Frau A. wiedererkennen? Wird sie sich über meinen Besuch freuen? Übermorgen weiß ich mehr.

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