Die Nasen in der Musikbox

Klares Plastik. Es liegt in der rosa Box meines Vaters. Also, meiner Box. Er hat sie mir zum Geburtstag geschenkt, als ich noch ein Mädchen war. Genauer gesagt war es drei Tage nach meinem Geburtstag, weil er den tatsächlich vergessen hatte.

Wahrscheinlich hat er die Box schnell irgendwo gekauft, ohne einen zweiten Gedanken an das Geschenk zu verschwenden. Ich schätze sie dennoch sehr. Hinten ist ein kleines Stück Metall, mit dem man die Box aufziehen kann. Beim Öffnen springt eine Ballerina im rosa Kleid hervor. Sie dreht sich zur Musik.

Jetzt liegt das kleine Säckchen in der Box, die ich bereits mit Kinderhänden gehalten habe. Jegliche Unschuld wurde durch Freiheit ersetzt. „Nur noch eine“, sagt die Sucht, wie nach jeder anderen auch. „Komm schon, du (füge Ausrede hier ein).“

…hast doch morgen frei.

…genießt doch das Gefühl.

…hast ja schon dafür bezahlt.

…ist doch nicht so schlimm.

…das Leben ist kurz, also warum nicht?

Die Ausreden werden von Stunde zu Stunde dämlicher, aber ich mit. Immer wieder falle ich darauf rein. Ein Teil von mir versucht mit aller Kraft, dem Sog dieses dunklen Loches zu entkommen. Ich sehe ihn, wie er sich mit den Fingernägeln an der Couch, am Tisch und an den Wänden festzukrallen versucht.

Auch ihn lasse ich jetzt sprechen.

„Lies doch ein Buch. Geh früh schlafen, du bist den ganzen Tag lang schon so müde. Schau dir deine Show zu Ende an, geh duschen und dann leg dich ins Bett. Sei vernünftig. Schau auf dich.“

Natürlich gebe ich ihm recht. Trotzdem sehe ich ihn Zentimeter für Zentimeter rutschen. Ich weiß, dass ich auch noch um drei Uhr morgens hier sitzen werde.

Die Probleme treffen das Fundament hart. Die Vergangenheit liegt wie moosbedeckte, nasse Steine unter dem Beton und lässt ihn langsam zur Seite gleiten. Erinnerungen und Glaubenssätze wirken wie Säure, deren Aufgabe es ist, zu zerfressen.

Ich stehe auf und gehe zur Musikbox. Es ist aber nicht wegen der Ballerina, sondern wegen dem kleinen Plastik. Immer ist es das Plastik.

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