Die Menschen im Tal

„Grüß Gott“, sage ich mit einem warmen Lächeln zur Frau ohne Arm. Wo bei anderen der rechte Arm in eine Hand übergeht, schwingt hier ein leerer und lebloser Ärmel im Wind. Ich kenne die Frau schon mein ganzes Leben lang. Wie sie heißt, darüber bin ich mir nicht ganz sicher. Ich grüße sie trotzdem. Das gehört sich so, sagen auch alle anderen im Tal.

Es geht hinunter in die noch dunkle Schlucht. Der Bäcker verspricht Wärme. Auf dem Weg grüße ich noch drei weitere Personen, deren Gesicht ich bereits unzählige Mal gesehen habe, deren Namen ich aber nicht kenne.

Meine Großmutter wüsste bestimmt Bescheid. Sie könnte mir nicht nur ihre Namen verraten, sondern auch, in welchem Haus sie wohnen. Sie wüsste den groben Familienbaum der Personen und welche Charakterzüge sie ausmachen.

„Das ist Herr X, den kennst du doch! Der hat dich mal als Baby gehalten. Seine Frau Y hatte drei Fehlgeburten und backt den besten Apfelkuchen, den ich je gegessen habe. Kennst du das gelbe Bauernhaus auf der Hauptstraße? Ja, da wohnen sie! Ich war mal bei ihnen, aber das Rezept will sie mir trotzdem nicht verraten… „

Im Tal kennt also jeder jeden und jeder kennt mich, doch ich kenne niemanden. Die Geschichten der Menschen interessieren mich nicht, solange sie mir diese nicht selbst erzählen.

In der Bäckerei entdecke ich ein neues Gesicht hinter der Theke. „Grias di! Wos derf’s denn sei?“, singt der Unbekannte und überreicht mir ein paar Momente später ein Papiersackerl mit ein paar Mohnflesserl und einer Knoblauchstange.

Das Ding in einem Tal ist, dass es nach jedem Bergab auch wieder ein Bergauf gibt.

Vor dem Metzger neben der Kirche steht die Verkäuferin und putzt das Schild, auf das sie die Sonderangebote schreiben will. „Grüß Gott!“, rufe ich verantwortungsbewusst auf die andere Straßenseite, aber die Frau ist zu sehr in ihr Vorhaben versunken.

Der Nachbar möchte gerade in sein Auto steigen, als er mich sieht. Er geht seiner unausgesprochenen Verpflichtung mich zu grüßen nach und fährt dann los. Ich kenne seinen Namen. Immerhin leben wir schon über ein Viertel eines Jahrhunderts nebeneinander. Niedrige zweistellige Meter trennen unsere Köpfe im Schlaf. Dennoch weiß ich fast nichts über ihn.

Was sind seine Wünsche, seine Träume, seine Hoffnungen, seine Ziele? Was hält ihn abends wach und was inspiriert ihn morgens? Mag er lieber Erdbeer- oder Marillenmarmelade? Meine Großmutter wüsste es bestimmt.

Ich kann nur raten, während ich in meine Knoblauchstange beiße und über die Menschen im Tal, die alles über mich zu wissen scheinen, nachdenke.

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